63
Wenn wir unsere Kräfte aneinander messen, unsere Fähigkeiten und sorgsamen Routinen prüfen, können wir versuchen, uns auf jede Eventualität vorzubereiten. Aber sobald wir im realen Kampf stehen, ist alles, was wir wissen, nur noch graue Theorie.
Zufa Cevna,
Vorlesungen zur Zauberinnen-Ausbildung
Obwohl Quentin und Faykan nichts davon ahnten, besuchte Abulurd regelmäßig seine Mutter in der Stadt der Introspektion. Unmittelbar nach seiner Beförderung hatte ihn die schreckliche Nachricht vom tapferen Ende seines Vaters durch die Cymeks ereilt, und nach diesem schweren Schlag fühlte er sich einsamer als je zuvor.
Sein Bruder ging als kommissarischer Viceroy völlig in der Politik auf, während Vorian Atreides sich ganz darauf konzentrierte, wie sich die Cymeks am besten bekämpfen ließen, falls Agamemnon und die überlebenden Titanen weitere Aktionen gegen die freie Menschheit planten. Im Augenblick konnte Abulurd von keinem der beiden Mitgefühl oder Verständnis erwarten.
Also besuchte Abulurd seine Mutter. Er wusste, dass Wandra auf nichts reagieren konnte, was er ihr erzählte. Während seines ganzen Lebens hatte er von ihr noch kein einziges Wort gehört, aber er wünschte sich so sehr, er hätte sie richtig kennen gelernt. Er wusste nur, dass sie durch seine Geburt ihren Geist verloren hatte.
Zwei Tage, nachdem er vom Tod seines Vaters erfahren hatte, war der Schock so weit abgeklungen, dass er sich zu diesem Besuch imstande fühlte. Er war überzeugt, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, Wandra vom schrecklichen Schicksal ihres Mannes zu erzählen. Wahrscheinlich hielt es niemand, nicht einmal Faykan, für wichtig oder notwendig, da sie vermutlich ohnehin nichts verstehen würde.
Doch Abulurd zog seine beste Uniform an und legte großen Wert darauf, seine neuen Bashar-Abzeichen zu polieren. Dann nahm er eine Haltung an, in die er all seine Würde legte.
Die in der Stadt lebenden Brüder und Schwestern führten ihn durch das Tor in die religiöse Zuflucht. Alle wussten, wer er war, auch wenn er kein Wort mit ihnen sprach. Abulurd blickte geradeaus, während er über die Pfade aus Edelkieseln schritt und an kunstvollen Springbrunnen und hohen Lilien vorbeikam, die eine friedliche Atmosphäre der Kontemplation verbreiteten.
Am Morgen hatte man Wandra mit ihrem Stuhl neben einen der Fischteiche in die Sonne gestellt. Die goldschuppigen Geschöpfe flitzten zwischen den Wasserpflanzen umher und suchten nach Insekten. Wandras Gesicht war auf den Teich gerichtet, aber ihr Blick war leer.
Abulurd stellte sich vor sie hin, mit erhobenem Kopf und geradem Rücken. »Mutter, ich bin gekommen, um dir meinen neuen Dienstrang zu zeigen.« Er kam näher und deutete auf das Bashar-Abzeichen, auf dessen Metalloberfläche sich das helle Sonnenlicht spiegelte.
Er rechnete nicht damit, dass Wandra reagierte, aber irgendwo in seinem Herzen wollte er daran glauben, dass seine Worte bis zu ihr vordrangen, dass ihr Geist vielleicht doch noch am Leben war. Vielleicht freute sie sich auf diese Besuche, die Gespräche mit ihm. Selbst wenn ihr Geist wirklich so leer war, wie er zu sein schien, hatte Abulurd nicht das Gefühl, seine Zeit zu vergeuden. Dies waren die einzigen Momente, die er mit seiner Mutter verbrachte.
Er war häufiger hierher gekommen, seit er sie am Ende der Großen Säuberung aus dem Evakuierungsschiff zurückgeholt hatte, nachdem erklärt worden war, dass Salusa vor der Roboterstreitmacht sicher war. Abulurd hatte persönlich dafür gesorgt, dass Wandra und ihre Betreuer in die religiöse Einsiedelei zurückgebracht wurden.
»Und ... es gibt noch eine andere Neuigkeit.« Tränen traten ihm in die Augen, als er daran dachte, was er ihr nun sagen musste. Viele Angehörige der Armee der Menschheit hatten ihn bereits wegen des Verlustes seines Vaters getröstet, aber das war nur passives Mitgefühl gewesen. Zu viele Menschen wussten, dass Abulurd und sein Vater kein besonders enges Verhältnis gehabt hatten. Ihre Art machte ihn wütend, aber er hielt sich mit bissigen Erwiderungen zurück. Nachdem er jetzt mit seiner Mutter sprechen konnte, musste er sich dem stellen, was er wusste, und sich eingestehen, dass die Nachricht den Tatsachen entsprach.
»Dein Mann, mein Vater, hat tapfer im Djihad gekämpft. Aber nun ist er im Kampf gegen die Cymeks gefallen. Er hat sich geopfert, damit sein Freund Porce Bludd ihnen entkommen konnte.« Wandra zeigte keine Reaktion, aber nun flossen die Tränen über Abulurds Wangen. »Es tut mir so Leid, Mutter. Ich hätte bei ihm sein sollen, um ihm im Kampf zur Seite zu stehen, aber unsere ... unterschiedlichen militärischen Aufgabenbereiche ließen es nicht zu.«
Wandra saß mit hellen Augen da und starrte unberührt auf die Fische im Teich.
»Ich wollte dir diese Nachricht persönlich überbringen. Ich weiß, dass er dich sehr geliebt hat.«
Abulurd hielt inne, als er dachte, hoffte ... sich beinahe vorstellen konnte, ein plötzliches Glitzern in ihren Augen zu bemerken. »Ich werde dich wieder besuchen, Mutter.« Er sah sie längere Zeit an, dann drehte er sich um und eilte über die Pfade zurück.
Unterwegs hielt er am Kristallsarg an, in dem sich der konservierte Körper von Manion dem Unschuldigen befand. Er hatte dem Schrein schon des Öfteren seine Ehrerbietung erwiesen. In den endlosen Jahren des Krieges gegen die Denkmaschinen waren viele Besucher gekommen, um sich das Baby anzusehen, durch das der Djihad ausgelöst worden war. Abulurd betrachtete das verschwommene Spiegelbild seines eigenen Gesichts auf dem Kristallsarg und musterte eine Weile die Züge des heiligen Kindes. Als er die Stadt der Introspektion verließ, fühlte er sich immer noch sehr traurig.